Einen guten Riecher gehabt

Eine Spur, ein Hund, sein Urinstinkt: Das wohl wichtigste Organ des Hundes ist die Nase. Immer wieder leisten die Vierbeiner durch sie Außergewöhnliches..

 

Neun Uhr im bayerischen Meilenhofen. Eingepackt in ihrer Daunenjacke steigt Natalie Basche aus ihrem VW-Bus. Die blonden Haarspitzen blitzen unter ihrer weit ins Gesicht gezogenen Mütze hervor. Die eisige Kälte des nebligen Januarmorgens verwandelt ihren Atem in weißen Hauch. Die 41-Jährige ist geprüfte Trail-Trainerin und in den 247-Seelenort gerufen worden: die 60-jährige gehbehinderte Renate Schellhase wird vermisst.

Ein schwarzer Ducato fährt vor. Die Kieselsteine des Parkplatzes vor Renate Schellhases Wohnhaus knirschen unter dem Druck der Reifen. Uschi Schleer, Röntgen-Assistentin aus Neuburg, steigt aus und wirft die Tür zu. Die Scheiben des Kastenwagens sind beschlagen. Drinnen bellt ein Hund. Natalie ruft ihr entgegen: „Ich hab das Nachthemd von Renate. Die Spur könnte bereits mehrere Stunden alt sein. Joëlle muss sofort loslegen.“

Joëlle, die zweijährige Berner Sennen-Border-Mix-Hündin, braucht jetzt einen feinen Riecher. So wie bei den 53 vermissten Personen, die sie in zurückliegenden Einsätzen bereits aufspüren konnte.

Ritual für Mensch und Hund

Uschi Schleer öffnet den Kofferraum und befestigt die Leine am Halsband der Hündin. „Joëlle, Einsatz!“ – mehr Worte braucht ihr Frauchen nicht – und Joëlle tippelt hektisch vor ihr auf und ab. Ihren Blick wendet sie nicht mehr vom Frauchen ab, selbst als die beiden Frauen die letzten Absprachen treffen. Fast unsichtbar bringt die Hundeführerin Joëlle zur Ruhe. Eine kleine Bewegung des rechten Zeigefingers reicht - und die Hündin sitzt. Ihr Körper ist angespannt. Vor dem Start legt Uschi ihr das Geschirr um, die 7,50 Meter lange Biothaneleine, eine Kunststoffleine, befestigt sie am Rückenring. „Es ist ein Ritual. So weiß die Hündin genau, was anschließend passiert“, sagt die Trail-Trainerin. Noch einmal holen Hund und Mensch tief Luft. Ab dem nächsten Kommando übergibt Uschi ihrem Vierbeiner die Führung.

Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit

Joëlle bekommt von Natalie einen Geruchsartikel. In einer verschließbaren Plastiktüte hat Renates Mann das Nachthemd der Vermissten gepackt. Mit ihren 250 Millionen Riechzellen nimmt die Vierbeinerin mit einem einzigen Atemzug den Individualgeruch der 60-Jährigen wahr. Sie schüttelt sich, um gleich darauf die Spur aufzunehmen. „Viele Hunde schütteln sich nach der Geruchsaufnahme, um die Nase freizubekommen und den Individualgeruch aus der Umwelt herauszufiltern zu können“, erklärt Natalie

Uschis Kommando "Trail" verwandelt Joëlles gespannte Erwartungshaltung in eine Arbeitshaltung: die Nase tief, der Rücken rund, die Muskulatur der Hinterbeine angespannt. Der Hund ist nach kürzester Zeit auf der Spur. Ab jetzt wird kein Wort mehr gesprochen. Das würde den Hund nur ablenken. Lediglich über die Leine gibt Uschi Signale. Ständig korrigiert sie über die Führhand die Pendelausschläge der Hündin, behält die Verbindung. Durch ein leichtes Zupfen an der Leine gibt Uschi dem Tier wenige Meter vor der Hofausfahrt das Zeichen für besondere Vorsicht und Aufmerksamkeit. Joëlle wird langsamer und genauer, fast so, als nehme sie jede einzelne Hautschuppe auf. Sie dreht den Kopf nach links in die Straße, aber nur kurz. Ihr Körper biegt sich, sie verliert die Spannung und schließt diese Abzweigung somit aus. Mit einem Satz zieht sie in die Leine – und auf die nächste Kreuzung zu.

Diesmal muss die Hundeführerin eingreifen, da ein Auto von rechts heranfährt. Ein für den Menschen kaum zu hörendes „Steh“ zischt Uschi, und die Hündin verharrt, herausgerissen aus ihrer konzentrierten Anspannung. Sobald der graue Audi an dem Hund-Mensch-Gespann vorbeigefahren ist, lautet das Kommando „Weiter“. Man hört nur das Hecheln des Hundes, der sich in die Spur zurückarbeitet.

 

Was ist Trailing?
Trailing kommt von "Mantrailing". Der
Begriff stammt aus dem Englischen von
"man" = Mensch und "trailing" = eine
Spur verfolgen. Hierbei sucht der Hund
eine Person anhand ihres
Individualgeruchs. Der Individualgeruch

setzt sich aus einem Gemisch aus

bakteriellen, hormonellen
und chemischen Abbauprodukten und
Duftdrüsensekreten zusammen. 
__________________________________

 

Scheinbar hat der Wagen einige Geruchspartikel durcheinandergewirbelt. Joëlle nimmt den Kopf hoch, atmet tief ein und schüttelt sich. Die fremden Gerüche scheinen Joëlle verunsichert zu haben. Sie läuft fast aufgeregt in die Seitenstraße, während ihr Frauchen indessen Ruhe bewahrt. Uschi bleibt in der Mitte der Kreuzung stehen, gibt ihr etwas mehr Leine, ohne den Kontakt zu verlieren und erlaubt ihrem Hund, sich neu zu orientieren. Als Joëlle sich bestimmt umwendet, macht Uschi ihr den Weg frei, nimmt die Leine wieder auf Kontakt und folgt ihr. Entschlossen verschärft Joëlle das Tempo und trabt mit raumgreifenden Schritten auf einen Feldweg in Richtung Wald zu. Ihre Pfoten bringen das von Raureif bedeckte Gras der Wiese zum Rascheln.

Uschi muss versuchen in Joëlles Spur zu bleiben, um sie nicht beim Suchen zu irritieren oder aus der Spur zu ziehen. Nicht mehr geradlinig, sondern im Zick-Zack geht sie die Wiese ab. Der Hund arbeitet hier nach dem Ausschlussprinzip: Auf offenen Flächen kann der Wind Gerüche grossflächig  verteilen. Dennoch führt die Hündin ihr Frauchen und die Trainerin zielstrebig in den Wald. Joëlle ist kaum mehr zu halten, prescht voran. Für Uschi und Natalie ist es schwer dran zu bleiben. Uschi verheddert sich beinahe mit der Leine in einem Baum, muss sich gegen Äste wehren. Joëlles Pfoten sind auf dem weichen Waldboden nicht mehr zu hören, dafür durchdringt ihr Hecheln die Stille. Sie rennt einen Berg hinauf, oben sind geschnittene Holzstämme aufgeschlichtet. Joëlle gelangt hinter die Stämme, stoppt abrupt und setzt sich. Uschi und Natalie erkennen sofort das Signal der Hündin. Sie hat die vermisste Personen gefunden.

Joëlle – "Stolz wie Oscar"

Mit klammen Fingern greift Übungsopfer Renate in ihre Jackentasche und zieht einen kleinen Plastikbeutel hervor. Joëlle springt auf, wieder wedelt sie aufgeregt mit hocherhobenen Schwanz. Auftrag erfüllt! Renate war nicht unvorbereitet losgezogen: "Gebratene Leber frisst Joëlle am liebsten." Vor einer guten halben Stunde hatte sich die Trail-Schülerin in ihr Versteck begeben; nur Trainerin Natalie wusste darüber Bescheid.

Trailen – eine besondere Art der Bindungsarbeit

Wie jeden Donnerstag trifft sich Natalie mit ihren Schülern zur Trail-Stunde – und jede Woche versteckt man sich für die Hunde. "Hunde brauchen eine durchdachte Ersatzbeschäftigung. Nasenarbeit ist die natürlichste Möglichkeit und lässt sich in unterschiedlichen Situationen sehr gut einsetzen", sagt die Trail-Lehrerin zurück im Hof vor Renates Haus. Petra, auch trailbegeistert, ergänzt: "Nach der Stunde sind die Hunde ganz ausgeglichen. Mein Snoopi liegt dann zu Hause den ganzen Tag zufrieden auf seinem Platz." Und schon wird die nächste Spur gelegt. Natalie und Uschi machen sich auf den Weg, ein passendes Versteck für die nächste Übung zu finden: jetzt ist Petra mit ihrem Snoopi an der Reihe.

Nina Betz

 

___________________________________

 

Die Nase des Hundes
Der Hund ist ein Makrosmat: Was für
uns Menschen die Augen sind, ist für
Hund die Nase. Der Mensch hat gerade
einmal fünf Millionen Riechzellen und
etwa 350 Typen von Rezeptoren. Er
kann nur rund 1000 Gerüche
unterscheiden. Hingegen besitzt der
Hund bis zu 250 Millionen Riechzellen
und etwa 1200 verschiedene
Rezeptoren. Damit erkennt er ein
Vielfaches an Duftstoffen und ist sogar
in der Lage, mit jeder Nasenhöhle
einzeln Informationen aufzunehmen.